dominique m. täger

ephemer, Band I: sternbespien

Leseprobe

Etta

Sie schlenderten über die durch antike Laternen und Schaufenster beleuchtete Flaniermeile hinunter ins Stimmengewirr und suchten eines der angesagten Fischrestaurants, fanden es leicht orientierungslos in der Menge aus Restaurants und bunten Touristen, vornehmlich Engländer, Deutsche und Holländer, dementsprechend das Stimmengewirr, kaum Spanisch. Sie setzten sich an ein Tischchen im gusseisernen Jugendstil, auf dem sich eine künstliche Rose in einer Vase aus reinem Porzellan präsentierte, außerdem ein Aschenbecher, Salz, Pfeffer, Öl, Essig und Zahnstocher in Papierschiffchen. Ein träger Wind kuschelte sich leger in die Hafenszenerie, die Jachten und einige auf alt getrimmte Ausflugsboote und auch ein paar echte Fischerboote pennten im Hafenbecken. Hinter der Kaimauer, nah bei ihrem Tisch, wuselten ein paar Kitten umher, die eindeutig in ihre Richtung starrten und leise piepsten. W wählte Tapas für beide und gegrillte Baby Calamari in Tintensauce auf Reis und separat Pommes, dazu einen grünen Salat, eine Flasche Wasser Sin und Binissalen Rotwein. Etta bestellte sich Pescado Fresco, Rape, also Seeteufel geschmort, aus dem Ofen mit Mandeln, Möhren und Zwiebeln an Reis und Baguette.

Als die Gerichte kamen, aßen sie still, lächelten sich verträumt an und schauten aufs Meer im Halbdunkel. Es war ziemlich voll, die Menschen plapperten und rauchten, man konnte das tröpfelnde Klappern von Besteck auf Porzellantellern ausmachen, Etta erschauerte, W murmelte etwas. Köstliches Essen und verzauberte romantische Nacht. Der Schimmer der bunten Lichterketten spiegelte sich sanft summend auf dem ruhigen, schwarzen Wasser. In der Bar, wieder später am Abend, nuckelte Etta weiter an ihrem Cocktail, suchte mit dem Strohhalm den Grund ab, schaute erneut in die Karte und sagte: „Ich will noch einen.“ „Bin dabei.“ Sie suchten gemeinsam aus und achteten darauf, dass sie unterschiedliche Cocktails bestellten, die sie immer teilten, um sich so in den zwei Wochen, die sie gebucht hatten, durch die komplette Karte zu saufen. „Wir sollten uns morgen Roller ausleihen und uns Capdepera und die Umgebung anschauen. Auf dem Puig de Capdepera gibt es eine Burg oder Festung, die soll super schön sein, verwinkelte Gassen, Stände mit mallorquinischem Krimskrams, mit Túnel, Tonarbeiten und Lederwaren. Restaurants, die dieses schwarze Fleisch anbieten, das es nur hier gibt, und sogar Straßenmusik, so mit Hackbrett.“ W schluckte vor Unbehagen und nickte danach. „Ja, gute Idee.“ „Gut. Abgemacht.“ Die Insekten, die um die Lichtkannen herumflatterten und in ihnen taumelnd verbrannten, bedurften urplötzlich einer intensiven Begutachtung. An zwei Stellen in der Bar standen Traversen mit schweren, sich abmühenden Lichtkannen, die die Bar trotzdem schlicht, beinahe bescheiden untermalten, mit gedämpften bunten Programmen, dezent changierend. Das Grauen nahm kein Ende, denn jetzt mischte sich Chris Rea mit Josephine, I send you all my love, heuchlerisch romantisch in die oberflächliche Atmosphäre der von Bambuszäunen umwandeten Insel ein, die im Mahlstrom der seicht dahinplätschernden Touristen, weiß gewandet wie Möwen, eigentlich keine Insel war, sondern vielmehr ein Mikro-Moloch auf Pannesamt. Dann, sukzessive, verlangsamten sich die Flügelschläge der qualmenden, sterbenden Motten, die Kannen warfen nur mehr blaues Licht, wechselten die Farbe nicht mehr. Plötzlich erstarrten die Nachtfalter im Mosaik der klaren Dunkelheit. Die Luft stand direkt vor ihm, haltmachend, stumm – wie auch die Geräusche der Bar zeitgleich verklangen. Alles ausgezoomt, weit entfernt, das Bild mit den starren, kleinen Faltern konzentrierte sich vor seinem Auge, wurde schärfer und kantiger. Ganz langsam stemmte er sich gegen eine Zentrifugalkraft und schaffte es nicht. Dann doch, den Finger hinreckend, bis er einen der pelzigen, schneeweißen Falter beinahe mit dem Finger berühren konnte. In diesem Moment legte Etta ihre Hand auf seine. „Schatz?“ Er zuckte entsetzt zusammen, aber sie ließ nicht los. „Es ist alles gut.“ Er schaute zu ihr hin und rollte mit den Augen, und alle Geräusche kamen zurück in ihre Mitte und auch um sie herum, auch ihr Gesicht zurück in den Fokus, alles einen Deut schärfer. I’m on fire von Springsteen. Es duftete herrlich süß nach den Cocktails und ein wenig nach Rauch und dem Salz des nur wenige Meter entfernten Meeres im Hafenbecken. Sie lächelte wieder und schaffte es gleichzeitig, besorgt auszusehen. „Was war das?“ „Was meinst Du?“ „Du hast da gerade mit ausgetrecktem Arm gesessen, ungefähr so.“ Sie machte es ihm vor. „Das war fast wie ein Hitlergruß. Du hast auf etwas gezeigt und gemurmelt. Du warst irgendwie kurz weg. Wo warst Du?“ „Sorry, ich hab keine Ahnung. Ich hab wohl geträumt.“ „Was denn?“ „Keine Ahnung. Echt nicht. Es ist … wie ein Stillstand. Was Professor X so macht.“ Er drehte sich konzentriert eine Kippe und griff nach dem Feuerzeug, das direkt vor ihm lag. „Ich glaube, ich will einfach nicht zurück. Ich hab richtig Horror davor, zu diesen Patienten … zurückzukehren. Ich weiß auch nicht.“ „Ich versteh das“, sagte sie. Sie zuppelte an der Plastikrose, bis sie ein winziges Plastikrosenblatt abgeknibbelt hatte. „Ups, wie konnte ich nur…“ In ihrer Stimme schwang Wärme und Mitgefühl mit, als sie beteuerte: „Du hast da einen extrem harten Job, was die psychische Belastung betrifft und Du mutest Dir zu viel zu.“ „Ist das so?“ „Ja, Du solltest deine Therapiestunden pro Tag reduzieren. Wir kommen klar, wir verdienen gut. Wir haben sogar Kohle angelegt. Mein Vater hält uns den Rücken frei, wenn was ist und, hey, das haben wir bis auf den Start-Kredi nicht gebraucht. Es ist genug Geld und Sicherheit da. Lass die Zügel etwas lockerer. Stress Dich nicht.“ „Wenn ich nur könnte.“ „Was?“ „Das ist schwierig. Ich kann keine Patienten ablehnen. Weißt Du doch.“ „Aber Du musst. Du siehst doch, was da los ist mit Dir. Du bist zu oft niedergeschlagen, oder? Und dann diese Absenzen. Manchmal bist Du eine Spur zu misanthropisch. Oder liegt das an mir?“ Sie hatten nun quer über den kleinen runden Plastiktisch die Arme gelegt, ihre Hände weich auf seinen. „Du bist der Anker, Etta. Du bist die intelligenteste und schönste Frau, die ich kenne, mit all dieser Güte in Dir. Unglaublich, was ich manchmal für Sätze raushaue. Später nenne ich das dann meine Hedwig-Courths-Mahler-Phase. Nichtsdestoweniger – das hab ich nicht verdient, so viel Glück mit Dir. Dich!“ „Ich liebe Dich“, glitzerte sie zurück, „Du bist meine große Liebe.“ Sie suchte seinen Blick, forschend, fing ihn und hielt ihn fest. „Ich liebe Dich, W. Ich will für immer mit dir zusammen sein, bis dass der Tod uns scheidet.“ Langsam entwirrten sie ihre Hände, die sich unmerklich ineinander verirrt hatten. Etta trank schlürfend von ihrem Kokoscocktail. Dann rauchten sie Ettas Gauloises Blondes und schauten schweigend durch die Schlitze im Bambuszaun hinüber zum Meer. 

Claire de Lune

Lange Gespräche am ramponierten Küchentisch in der viel zu überladenen WG. Mit fast sechzehn Leuten auf achtzig Quadratmetern. Mal saßen welche mit ihnen am Tisch, dann waren sie wieder weggewischt, so als gebe es einen Timelapse, wo alle herumschwirrten und nur sie beide still dasaßen. An den bröckeligen Wänden Poster von SubPop, von Pearl Jam und Kurt Cobain, The Clash und Crass. Das Logo der Antifa über der Tür und auf die Tür genagelt saß Frank Zappa auf dem Klo. Die WG war recht berühmt in der Gegend, aber total versifft. Das Gebäude zerfiel und stank pilzig und nach totem Haus. Es wurde viel und offen gedealt und ab und an kamen die Bullen, nahmen ein paar Leute fest, die nach ein paar Stunden wiederkehrten. Runtergerockt innerlich und äußerlich – die No Future Generation X -, aber alle hatten Eltern im Rücken und die ließen nicht zu, dass die Kids von den Bullen weggesperrt wurden. Zumal nicht wenige dieser Elterngeneration in der „Atomkraft? Nein, danke!“-Bewegung gewesen waren, Ökos, Aussteiger, spirituell veranlagt, einige kifften sogar immer noch, sogar mit ihren Kindern zusammen. Der Teppich in der Küche schimmelte und war grau irgendwas. Keinerlei Farbe auf keiner Farbskala. Sie stierten runter auf dieses Chaos, saßen rum, tranken Bier, kifften und schauten sich an. Lange. Der Joint ging hin und her, dann war er geraucht und da saßen sie nun. Unausgesprochenes. Irgendwer musste den Anfang machen und den machte sie: „Vielleicht sollte jeder machen was er will. Und wenn ich meinetwegen nach Köln gehe und Du hier in Münster bleibst, dann sehen wir uns jedes Wochenende am Aasee. Das ist dann nur für uns – das Wochenende.“ Er schluckte schwer an dem Kloß in seinem Hals, er könnte ersticken, ihm war so, ersticken gleich hier in ihren Arm hinein. „Das geht doch nicht.“ „Wir sind jetzt so lange zusammen. Das klappt. Das halten wir aus. Wir schaffen alles.“ Sie lächelte ihn vorsichtig an. „Das ist ok, Schatz.“ Er schluckte immer noch. Soviel konnte man doch nicht auf einmal schlucken. „Als ich Dich damals im Meer gesehen habe“, holte er vielleicht ein bisschen zu weit aus, „um Dich herum das Meeresleuchten und über Dir die Sterne, da wusste ich, dass wir uns niemals, niemals nie trennen würden. Ich wusste, dass Du irgendwann zu den Sternen zurückfliegst, dahin, wo Du herkommst. Weißt Du, das wäre der einzige Ort, wo ich Dich hinließe, denn da kommst Du schließlich her. Und ich würde die Reise ja auch wohl nicht überleben.“ Er lachte heiser und drehte eine Zigarette. Die Kerze, in der mit Wachs aus hundert Kerzen überzogenen Weinflasche tauchte ihr Gesicht in eine komplizierte Krakenform aus Licht. Er sagte: „Ansonsten gibt es nichts, was uns trennen darf. Und wenn Du hundertprozentig gehen willst, dann…“ Er zündete die Kippe an der Kerze an, ein toter Seemann, und inhalierte tief. Er blies den Rauch von ihr weg. „Dann komme ich mit nach Köln. Die Scheiß-Uni hat mit Sicherheit was für so einen wertkonservativen Schlappschwanz wie mich.“ „Ja?“ Sie machte große Augen, grün wie eine nasse Wiese im Frühsommer. „Das geht. Die WG ist eh scheiße, vielleicht ist das die Zeit fürs Erwachsenwerden.“ Sie zog ein Blättchen aus der OCB-Packung, dann den American-Spirit-Tabak heran, das kleine Döschen mit den Pollen, und begann zu bauen. Im Hintergrund lief was kompliziertes Krummtaktiges aus Frankreich – oder war das Meshuggah? Sie überlegte wohl, während sie baute. Er sah, dass ihr die Tränen in den Augen standen. „Claire de Lune, Süße?“ Sie ließ ihr Machwerk auf den Tisch fallen, schälte sich aus der Küchenbank heraus, war eine kleine Clairekugel, dann kam sie zu ihm, quetschte sich brutal neben ihn auf die andere Seite der speckigen orangebraunen Sitzgelegenheit. Sie nahm sein Gesicht in beide Hände, angefressene schwarz lackierte Fingernägel, und schaute ihm frontal in die Augen. „Ich liebe Dich, Schatz. Wenn Du wüsstest, wie sehr ich Dich liebe, dann würdest Du schreiend weglaufen.“ Sie küsste ihn heftig und lutschte ihn fast weg. Er ließ sich das einen Moment gefallen, dann schob er sie heiser lachend fort von sich. „Claire, wir müssen jetzt ganz schnell raus hier!“ Sie guckte sich kurz um und schüttelte sich ein wenig. Sie saßen am großen WG-Tisch, es wuselte und lebte um sie herum, sie waren ja gar nicht allein. „Lass uns zu dem Konzert in der Sputte gehen, Claire. Lass uns feiern.“ Sie rollte den Joint unordentlich und zitternd zuende, packte ihn zwischen ihre feuchten durchgeknutschten Lippen, schälte sich von der Sitzbank. Den Parka klaubend, der auf dem Fußboden lag, dieser Parka war irgendwann in ihren Besitz übergegangen, von wem auch immer. Sie trug das Ding wie eine zweite Haut, das ganze Jahr hindurch, ein Nazis-raus-Button am Ärmel, darunter die Antifa-Fahne, das PeaceZeichen auf dem anderen. Um den Hals zwei silberne Balletschuhe an einem Lederband. Sie warf sich den Mantel über, zog die Locken darunter hervor und warf sie nach hinten. Er nahm seine schwarze, mattglänzende Lederjacke in Jacketform, schlüpfte hinein. Sie entzündete den Joint, packte die Klötten in ihre übergroßen Taschen. Er checkte das Geld, sie lächelten sich an. Mit der Tüte zwischen den Lippen winkte sie in die Runde. Es wurde halbgar zurückgewunken.

„Wer spielt?“, fragte einer gelangweilt, der offensichtlich mitgehört hatte. „Eine Band aus meiner alten Heimat. Vamp irgendwas. Psychedelic Rock. Ganz ok eigentlich.“ „Oh, abgefahren. Wir kommen wohl mit.“ „Na, dann los.“ So waren sie ein Bündel aus Aktivisten und abgefuckten Drogis und mindestens einem Künstler, aber das waren sie ja eh alle. Das war das.